26.04.2025

Taiwan Today

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Die Marktschreier von Keelung

01.01.2012
Die Ruhe vor dem Sturm: Um Mitternacht ist auf der Xiaoyi Road noch alles still, und nichts deutet darauf hin, dass bald Hunderte von Händlern und Kundschaft herbeiströmen werden. Die Ziegel-Kollonaden stammen noch aus der japanischen Kolonialzeit (1895-1945). (Foto: Hubert Kilian)
Mit Kamatia’m (崁仔頂) bezeichnet man seit fast drei Jahrhunderten im taiwanischen Dialekt einen Fischmarkt, von dem fast alle Restaurants, Supermärkte, Großhändler und Sushibars im nördlichen Teil der Insel ihre Ware beziehen. Dieser Mikrokosmos nächtlicher Geschäftigkeit befindet sich an der hügeligen Küstenlinie unweit des alten Hafens von Keelung.

Vom Augenschein kann man hier leicht getäuscht werden. Tagsüber lässt nichts an den ein wenig heruntergekommenen alten Gebäuden der kurzen Xiaoyi Road, die geradewegs zum Hafen führt, darauf schließen, dass hier nachts unglaublich viel los ist. Lediglich ein schwacher Geruch, der in der Luft schwebt, und manche auf die heruntergelassenen Metall-Rollläden lackierte Namen von Geschäften rufen Assoziationen zum Meer hervor. Erst gegen Mitternacht vollzieht sich die allmähliche Verwandlung, wenn die Anwohner der Hafengegend schlafen gehen. In wenigen Stunden dringen die Akteure einer bestens geschmierten Handelsmaschine in den Straßenzug ein. Ein endloses Ballett aus Lieferwagen voller weißer Styroporbehälter belebt den Ort, Verkäufer und andere Händler stellen ihre Stände auf, komplett mit Waagen für die Fische, Schemel und Leuchtquellen, welche die Fischschuppen schimmern lassen. Buchhalter wienern ihre Rechenmaschinen, Händler kreuzen mit ihren klapprigen Lieferwagen auf, andere mit Sackkarren. Ein Heer von Zwischenhändlern mustert aufmerksam die ersten Lieferungen. Gegen ein Uhr morgens hat sich die Logistik voll entfaltet und die Straße verwandelt. Die ersten Wellen von Käufern — die mit den höchsten Ansprüchen — eilen mit argwöhnischer Miene und Notizbüchlein in den Händen herbei. Das faszinierende und lärmende Spektakel dieses nächtlichen Gewerbes hält bis zum Morgengrauen an.

Kamatia’m repräsentiert daher den umfangreichsten Großmarkt für Fische und Krustentiere im Norden Taiwans, und er rangiert noch vor dem Fischmarkt von Taipeh, in dem mehr verpackte und importierte Ware feilgeboten wird. Sein Ruf hat sich über die Jahrzehnte durch Mundpropaganda verbreitet. Es gibt etwa dreißig Grossisten und größere Einzelhandelsunternehmen, welche direkt von den Fischern der Insel oder den Zwischenhändlern einkaufen. „Im Gegensatz zu dem Markt in Taipeh, der computerisiert ist und von der Stadt verwaltet wird, ist der Markt in Keelung ein reines Privatunternehmen; er wird von Fischereiverbänden betrieben“, erläutert Lin Fu-lai, stellvertretender Direktor der Wirtschaftsabteilung der Stadtverwaltung von Keelung. „Die Stadtverwaltung kontrolliert nur die Hygiene. Aus diesem Grund kann man nicht genau sagen, wie viel Fisch jeden Tag verkauft wird und wie viele Käufer herkommen. Der Markt ist in erster Linie ein Forum für Austausch, die Kaufgepflogenheiten haben sich seit langem eingespielt, und von Taipeh aus kommt man schnell und bequem hierhin.“

Manche Großhändler verkaufen auch Fisch von den Philippinen, aus Vietnam und Indien, so wie Frau Chen, die seit zehn Jahren einen blühenden Handel auf dem Markt betreibt. Dann ist da Herr Liu, der mit seinem Lieferwagen die ganzen kleinen Häfen an der Ostküste abgrast und mit Ware füllt, die er in Keelung an die Zwischenhändler weiterverkauft. „Damit mache ich 10 000 NT$ (244 Euro) am Tag“, freut er sich. Fabien Vergé, Inhaber des französischen Restaurants La Cocotte in Taipeh, besucht den Markt seit zwei Jahren regelmäßig. „Dass wir nicht schnell mal eben auf dem Großmarkt Rungis von Paris vorbeischauen können, liegt ja auf der Hand, und das hier ist ein eher traditioneller Markt, der zwar alt ist, aber gut läuft“, urteilt der französische Koch. „Es gibt ein sehr vielfältiges, aber auch sehr unbeständiges und veränderliches Angebot, mit großen Preisschwankungen je nach chinesischen Feiertagen, Taifunen und der Entwicklung der internationalen Preise. Es sind alle Fische der Umgebung zu haben, mit unübertroffener Frische, aber wenn man etwas Bestimmtes sucht, ist das schon schwieriger. Das Hauptproblem ist die Information, also wo man gewisse Produkte finden kann. Dazu braucht man Zeit, aber ich konnte schließlich dank meiner taiwanischen Mitarbeiter Verbindungen mit ein paar Händlern aufbauen, so dass ich passend zu meinem Bedarf guten Fisch zu guten Preisen finden kann.“

Das Wort Kamatia’m bezeichnet die Höhe der Kaimauer gegenüber dem Wasserpegel Ende des 18. Jahrhunderts, als die Xiaoyi Road noch ein Kanal zum Meer und das Viertel kaum bebaut war. Die ersten Gebäude am Hafen wurden von den Japanern während der japanischen Kolonialzeit in Taiwan (1895-1945) errichtet, und die Straße wurde Anfang des 20. Jahrhunderts angelegt. In den fünfziger Jahren wurde der Kanal trockengelegt und verschwand. Seitdem haben sich gewerbliche Aktivität und Urbanisierung am Hafen von Keelung rasant entwickelt, die Fischereihäfen wurden von der Stadt weggedrängt, doch der Markt blieb, geduckt in der engen Straße aus einem anderen Zeitalter, und die Anwohner entwickelten zudem emotionale Bindungen an die nächtliche Geschäftigkeit des Ortes. „So unglaublich das auch klingen mag, wir haben uns daran gewöhnt“, versichert Ho Jing-ru, ein Bewohner von Keelung. „Wenn ich von Taipeh hierher fahre und den Geruch dieses Marktes wahrnehme, dann weiß ich, dass ich nach Hause komme!“

Trotz der langen Geschichte des Marktes arbeitet der Bürgermeister von Keelung derzeit an einem Plan, den Markt zum viel moderneren und geräumigeren Hafen Badouzi (八斗子) nordöstlich von Keelung zu verlegen. „Im Rahmen unserer Pläne für die Neuordnung der Stadt wollen wir die Gebäude und die Zufahrtsrampe zur Schnellstraße abreißen, der Kanal soll wieder eröffnet werden“, legt Lin Fu-lai dar, der keinen Zweifel daran hat, dass das Projekt letztendlich verwirklicht werden wird. „Manche der Anwohner sind allerdings dagegen. Das Ziel ist, das Umfeld und das Image der Stadt zu verbessern. Die Straßen, welche diesen Markt bilden, sind Teil einer viel zu alten Stadtplanung, sie sind zu eng, und daraus ergeben sich Sicherheitsprobleme. Wir haben bereits fast 400 Millionen NT$ (9,75 Millionen Euro) ausgegeben, um den anderen Kanal zwischen der Xinyi Road und der Renyi Road zu sanieren.“ Für Nachteulen mit genügend Freizeit ist es also höchste Zeit, die Nase vom Duft der Gezeiten umwehen zu lassen und in das frenetische Treiben auf diesem drei Jahrhunderte alten Markt einzutauchen.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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Der französische Journalist Hubert Kilian (Jahrgang 1972) wandte sich 1996 anspruchsvoller Photographie zu. 1999 kam er erstmals nach Taiwan und hat sich mittlerweile in Taipeh niedergelassen. Viele seiner künstlerisch meist sehr hochwertigen Aufnahmen postiert er auf der Foto-Website Flickr unter seinem Pseudonym „Yubai K“, daneben unterhält er seine eigene Website „Taipei Terminus“.

http://www.flickr.com/photos/taipeiterminus/
http://taipeiterminus.hautetfort.com/


(Foto: Hubert Kilian)

Die besten Fische finden als Erste ihre Abnehmer, daher müssen die Kunden schnell handeln und die Ware scharf im Auge behalten.


(Foto: Aurélie Kernaleguen)

Der französische Journalist und Photograph Hubert Kilian lebt und arbeitet in Taipeh.


(Fotos: Hubert Kilian)

Illustre Gestalten wie Kunden, schreiende Händler und Lagerarbeiter tragen zum energischen Getümmel im nächtlichen Kosmos dieses Marktes bei, und auf dem Markt geben sich die Restaurantbetreiber der ganzen Gegend ein Stelldichein.


(Foto: Hubert Kilian)

Um drei Uhr morgens ist die Xiaoyi Road schon nicht mehr wiederzuerkennen, und die Atmosphäre wirkt wie elektrisch geladen.


(Foto: Hubert Kilian)

Gute persönliche Beziehungen und Vernetzung liefern die Grundlage für einen guten Einkauf. Manche lassen sich die Ware telefonisch vormerken, bezahlt wird der frische Fisch immer in bar.


(Foto: Hubert Kilian)

Die ersten Sonnenstrahlen der Morgendämmerung tauchen den sechs Tage in der Woche geöffneten Markt in ein fahles Licht.

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